ISTANBUL

Resümee 

Teşekküler & görüşürüz


30.06.2022



Mein Erasmussemester an der Istinye University ist beendet. Hinter mir liegt eine spannende, aufregende und lehrreiche Zeit. Damit ist nicht das Wissen gemeint, welches mir in der überschaubaren Zahl der Vorlesungen und Seminare in der Universität vermittelt wurde. Sondern die Erfahrungen, die ich sammeln, die Gespräche die ich führen und die Menschen die ich kennenlernen durfte. Es ist ein Privileg ein Auslandssemester einlegen zu dürfen und zudem ein sehr individualistisches Projekt. Nun suche ich nach einer Aufgabe, die nicht nur mich und mein Leben betrifft. Damit beginne bzw. mache ich weiter in Istanbul. Diese Stadt ist mehr als eine Reise wert.


Auslandssemester sind eine wunderbare Möglichkeit, die alle nutzen sollten. Vollkommen egal wohin die Reise geht, es ist immer lehrreich. Weil man sich in einer fremden Umgebung allein zurechtfinden muss, einen Einblick in einen anderen (Universitäts-) Alltag bekommt, neue Freundschaften knüpft, Fremdsprachenkenntnisse verbessert und ewig von dieser Erfahrung zehren wird. Ich habe viel über mich selbst und über Türkiye gelernt. 


Gerade jetzt, in Zeiten der absoluten Ungewissheit, Preissteigerung und Inflation, (europäischer) Kriege, Polarisierung und Radikalisierungen. Zeiten, in denen wir erste Folgen der globalen Erwärmung erleben, sich die nächste Pandemie vielleicht nähert, Autokraten erstarken und Menschen weiterhin im Mittelmeer ertrinken, plädiere ich für Auslandssemester.  Wir befinden uns in der privilegierten Situation, für ein paar Monate an einem anderen Ort leben zu können, werden sogar finanziell gefördert! Die eigene Komfortzone zu verlassen, benötigt immer ein bisschen Mut. Und in jedem Fall lohnt es sich.


Meine Oma sagt immer, in ihrem breiten sächsischen Dialekt: „Woanders kochen sie auch nur mit Wasser.“ Und sie hat vollkommen recht. Es ergibt keinen Sinn, Angst vor dem Fremden zu haben. Es gibt immer einen Weg und verdammt viele freundliche und hilfsbereit Menschen. 

Also traut euch und verlasst Deutschland für wenigsten ein paar Monate. Mit dem Studium werdet ihr schon noch früh genug fertig.


Teşekküler & görüşürüz!





Istanbul – Eine Liebeserklärung


15.06.2022


Ich habe mich in deinen Straßen verlaufen und wiedergefunden, bin zu schnell mit dem Motorrad durch sie gebraust und mich von den Düften deiner Speisen verführen lassen. Ich habe mich totgelacht, geekelt, gewundert und gestaunt, mich schockverliebt und immer wieder verabschieden müssen.


Ich war glücklich, über die ersten Sonnenstrahlen, die deine Pflastersteine wärmten, sodass ich barfuß spazieren konnte, denn mir taten die Füße weh - sie waren voller Blasen. Ich bin gerannt, gehüpft und ganz langsam gelaufen, Schlangenlinien wegen des Alkohols und Umwege wegen schwerer Gedanken.


Ich habe mich in deinen Straßen verloren und gefragt, was ich hier tue. Wohin mit mir in dieser Stadt, in diesem Land, in dieser Welt. Ich habe so sehr vermisst, dass es mich fasst zerrissen hätte und so viel geweint, dass sich mein Inneres wie Wüste anfühlte. Ich habe mich selbst bemitleidet und Kette geraucht, vor Wut gegen Mülleimer getreten. Bin vor mir und allem was ich liebte weggerannt, und habe mich unfassbar einsam gefühlt. Doch ich weiß wo ich hinmuss, wenn ich traurig werde, wie lange ich laufen muss, bis es wieder einigermaßen okay ist. Hier am Bosporus geht das gut. 


Du bringst alle meine Seiten zum Vorschein und lässt mich Neue entdecken. Du inspirierst und lässt mich meine Notizbücher füllen, während du mich gleichzeitig lethargisch und faul werden lässt: Ich hänge in Hängematten rum und sogar Denken wird manchmal zu viel. 

Du hast mich zur Langschläferin werden lassen, denn das Leben beginnt hier erst um 11. Dabei sehe ich dir so gerne beim Erwachen zu, wenn ich die Nacht nicht zum Schlafen nutze und plötzlich der Tag anbricht.


Ich dachte ich wäre ordentlich und bemerke, dass ich das Chaos mag. Ich dachte, ich wäre introvertiert und schüchtern und spreche nun unbefangen Fremde an, traue mich wild zu tanzen, laut zu lachen und wieder bunt zu tragen. Ich probiere eine Menge Sachen aus, vor denen ich vorher großen Respekt hatte.


Ich dachte ich würde mich wohlfühlen in Deutschland, dabei wusste ich nicht, was Wohlfühlen überhaupt bedeuten kann.


Istanbul, du bist meine bisher beste Entscheidung. Dank dir bin ich und denke nicht mehr nur an das, was ich werden könnte.



Neues aus Istanbul 5

01.06.2022


DINO

 

Das Dino ist mein Wohnzimmer in Kadiköy. Hier verbringe ich Stunden damit, bei einem Cay nichts zu tun. Manchmal lese ich wenigstens, spiele Tavla oder versuche mich auf die Uni vorzubereiten. Doch die meiste Zeit ist irgendjemand da, mit der oder dem ich mich unterhalte. Der Kosmos des Dinos dreht sich um Serhat, den Inhaber und Renas, seinen Neffen. Beide sind meine Freunde und fast immer hier anzutreffen. Außerdem arbeitet A. hier, eine russische junge Frau mit einem Abschluss in Art Management, die versucht als Kellnerin irgendwie ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, auf verschiedenen Couches schläft und keinen anderen Job in Istanbul findet. Sie lernt fleißig Türkisch, nach Russland zurückzukehren ist keine Option für sie. Meine Französinnen und ich gehören zum festen Inventar. Aktuell außerdem zwei Radlerinnen aus Memmingen, die bis nach Usbekistan geradelt sind und für jeden Kilometer einen Euro für Seawatch gesammelt haben. Nun sind sie wieder in Istanbul, weil sie das DINO und Kadiköy ins Herz geschlossen haben. Schon zum dritten Mal haben die beiden Schwestern ihre Abfahrt verschoben und bringen mit ihrer witzigen und lebensbejahenden Art ganz viel Bunt in diese Welt. Außerdem J., der seit anderthalb Monaten im Hostel nebenan wohnt und auf seinen Flug nach Südafrika wartet und auf einem deutlich zu kleinen roten Mountainbike herumcruist. Dann Ibrahim Abi, ein älterer Herr, der immer Tavla spielt, türkischen Kaffee trinkt und mir zum Geburtstag ein kleines Fahrrad aus Draht bastelte. Drumherum immer wechselnde Gesichter, je nachdem wer gerade im Hushhostel schläft oder zu Besuch ist.

Donnerstag gibt Serhat einen Türkischkurs, Mittwoch wird getanzt und an den anderen Abenden melden sich oft befreundete Musiker*innen für Konzerte an. Es gibt sehr guten Wallnusskuchen und ein eher spartanisches Frühstück, das auf tierischen Produkten basiert: Eiern und Käse. Sie nennen es Athletes‘ Breakfast. Manchmal kauft jemand Obst für alle, wenn sich einer der Männer mit den Schubwägen voller Kirschen, Pflaumen und Erdbeeren nähert. Neulich griffen viele Hände nach den Stücken einer saftig-roten Wassermelone – es war ein Fest. Wir teilen viel und versumpfen oft noch irgendwo in Yeğildirmeni, wenn das Dino schon geschlossen hat.

 

 

Kadiköy Session Festivalçik

 

Am letzten Maiwochenende tanzten die Menschen im Stadtviertel Yeğildirmeni auf den Straßen. Grund hierfür war das Kadiköy Festival, das zum zweiten Mal stattfand.

In jedem Café wurde Livemusik gespielt, ein*e DJ*ane legte auf, die Galerien öffneten ihre Türen, es gab Theatervorstellungen, Kinderprogramm und Tanzkurse. Wir ließen uns treiben, folgten einer Jazzband, wohnten einem Tanz zwischen einer jungen Frau und einer Schildkröte (die fort vermutlich nicht ganz freiwillig performte) bei, trafen andauernd die gleichen Menschen, schwitzten mit allen zusammen in der ersten Sommerhitze und kühlten unsere Gemüter mit kaltem Bier. Die Tekel (Späties) machten, dank der feierwütigen Meute, das Geschäft ihres Lebens.

Es war der Wahnsinn, wie Fete de la musique nur besser. Leider entschied die Stadt dann, dass für den Sonntag alle Konzerte in Innenräumen stattfinden sollten, um den Verkehr nicht so sehr zu blockieren……….. Es wurde also ein bisschen ruhiger, was uns Verkaterten gar nicht so schlecht tat. Dafür war die Afterparty in einer Bar mit Bosporusblick umso wilder. Ich habe mich und alle um mich herum noch nie so ausgelassen tanzen sehen, die Klamotten klebten an den Leibern vor Schweiß, jemand verteilte Glitzer, die Festivalorganisatoren wurden bejubelt. Nach der Livemusik legte ein DJ auf, dann kam ganz überraschend eine Bauchtänzerin auf die Bühne und wirbelte ihre langen Haare umher. Es war großartig.

 

 

Im Beautysalon

Schon mehrmals wurde mir auf der Hauptstraße ein Flyer unter die Nase gehalten, dessen Inhalt mich über die Vorzüge einer Beautybehandlung aufklären und mich zum nächsten Salon führen sollte. Ich war nicht besonders interessiert and Lippenaufspritzung oder Nervengift, doch dann bekam ich Besuch und ließ mir die Nase machen. Meine neue schlanke Stupsnase wird mir sicherlich viele Türen öffnen, wenn sie dann endlich abgeheilt ist und ich das Pflaster entfernen kann.

Spaß beiseite, meine Wahlschwester und ich ließen uns nur die Wimpern färben. Nachdem wir verstanden hatten, dass Lifting keine Schönheitsoperation ist, sondern die Bezeichnung für unsere gewünschte Behandlung ist und wir dreimal die Lippenunterspritzung zum Sonderpreis abgelehnt hatten, ging es dann los. Sehr sorgfältig wurden unsere Wimpern einzeln auf eine Silikonschicht auf  unsere Augenlidern geklebt und einzeln gefärbt. Währenddessen beobachteten wir diverse Frauengruppen, die sich beraten und die Behandlungen schönrechnen ließen. Der Anwerbermensch von der Hauptstraße brachte immer mal wieder Interessentinnen nach oben, die meiste Zeit warteten die drei Empfangsdamen gelangweilt auf Kundschaft. Nach zwei Stunden hatten wir dann aber wirklich genug vom Schönheitswahn und verließen, ausgekühlt von der Klimaanlage, den Salon.

 

 

 

 

 



3116 Kilometer – Ein Reisebericht


16.05.2022


Am 15. Mai machten wir uns auf den Weg, um den Osten der Türkei zu entdecken. Zum ersten Mal verreisten wir zu dritt als WG: Marieke, Laure und ich.

Von Ankara bis nach Kars gibt es eine Zugverbindung – den Doğu-express, für den wir schon lange im Voraus Tickets gekauft hatten, weil diese sehr schnell vergriffen sind. Leider waren wir zu spät dran, um ebenfalls mit dem Zug von Istanbul nach Ankara zu fahren und mussten auf den Bus ausweichen. Die ersten sechs Stunden unserer Reise verbrachten wir also im uns wohlbekannten Überlandbus, um dann in Ankara innerhalb einer Stunde schnell einige Lebensmitteleinkäufe zu erledigen. Die Hauptstadt hat mir nicht gefallen, was auch darauf zurückzuführen werden könnte, dass es dort regnete. Staubige lange Straßen und ein Atatürk-Denkmal sind mir in Erinnerung geblieben.

Pünktlich auf die Minute erreichten wir den Doğu-express und nahmen im gut gefüllten Großraumabteil platz. Wir waren 28 Stunden im Zug unterwegs, wobei die Reisebusse im Vergleich deutlich bequemer sind. Nachdem ich genug davon hatte, melancholisch aus dem Fenster zu gucken und die Musik alter trauriger Männer zu hören, mein Buch ausgelesen und alle Snacks aufgegessen hatte, langweilte ich mich. Wir tingelten zwischen Speisewagen und unserem Abteil hin und her, tranken Cay, erwischten die Leute, die „heimlich“ auf dem Klo rauchten und erreichten Kars dann endlich um 23 Uhr am 16. Mai. 

Kars gehörte mal zu Armenien, zum osmanischen Reich, zu Russland und ist nun Verwaltungszentrum der gleichnamigen Provinz im Osten der Türkei. Die vielen verschiedenen kulturellen Einflüsse, seien es armenische, georgische, griechische, russische oder türkische, spiegeln sich im Stadtbild wider. Wir besichtigten die Zitadelle, die sich über der Stadt erhebt und eine armenische Kathedrale, die nun als Moschee genutzt wird und durch die wir ungefragt eine Führung bekamen. Kars zeichnet sich, ganz anders als Istanbul mit seinen verschlungenen Gässchen, durch schnurgerade und rasterartig angeordnete Straßen aus. Außerdem fallen die vielen çay evi (Teehäusern) auf, in denen Männer standen, saßen, rauchten, Tavla oder OK spielten.

Eigentlich wollten wir ein Auto mieten und damit weiterfahren, doch nach zähen Verhandlungen mit einer unbekannten Stimme aus dem Telefon, die Englisch sprach und dolmetschte, entschieden wir uns dagegen - zu teuer. Unser AirBnB-Gastgeber bot netterweise an, mit uns nach Ani zu fahren, wofür wir sonst ein Auto benötigt hätten. Die ehemalige armenische Hauptstadt ist UNESCO-Weltkulturerbe und besteht nur noch aus beeindruckenden Kirchenruinen und viel Weite, die türkisch-armenische Grenze ist gleich nebenan. Wir trafen ein französisches Pärchen dort, die auf ihren Fahrrädern bis nach Nepal radeln wollen und überrascht waren, wie viel die Türkei zu bieten hat. Auch das höre ich immer wieder von Reisenden, mir empfand es genauso.

Für uns ging es weiter nach Trabzon und zwar per Anhalter. Nach einem kurzen Frühstück, bestehend aus Simit und çayö fragten wir in einem Supermarkt und einer Autowerkstatt nach Edding und Pappe und malten uns ein Schild. 

An diesem Tag waren wir insgesamt 10 Stunden unterwegs, legten 424 km in 14 verschiedenen Autos zurück und trainierten unser Türkisch. Die meisten reagieren sehr euphorisch, wen ich sage, dass ich aus Deutschland komme, was meine Französinnen ein bisschen nervt. Auf Frankreich reagiert niemand. Ich versteh‘s ja auch nicht.

Die Landschaft ist wunderschön, die Menschen herzlich und wir warten nie länger als zehn Minuten bis jemand anhält uns und mitnimmt. Ausgebremst wurden wir nur von zwei Polizisten, die sich wohl langweilten und mit uns Tee trinken wollten. Als wir ihnen nach einer halben Stunde jedoch begreiflich machen konnten, dass wir noch viele Kilometer vor uns hatten, hielten sie einen LKW für uns an. Der Fahrer des LKWs rief all seine Freunde an, um ihnen zu zeigen, dass drei junge Frauen in seinem Auto sitzen. Am schönsten Ort der Strecke zwischen Bergen und Bäumen machten wir ein Picknick und fuhren dann mit fünf Hühnern, von denen nur die Köpfe aus Plastesäcken schauten, auf der Ladefläche eines Pick-ups weiter. Diverse Fahrer erklärten uns für verrückt, weil wir noch bis nach Trabzon wollten.

Nur im letzten Auto fühlten wir uns ein wenig unsicher, weil der Typ das dreifache der erlaubten Geschwindigkeit fuhr und der Alptraumdrängler vom Dienst war. Als er seine Freundin eingesammelt hatte, riss er sich dann zusammen und er brachte uns direkt bis vor die Tür unseres AirBNBs in Trabzon.  

Die Stadt an der Ostküste der Türkei hat einen erfolgreichen Fußballverein, der den ersten Platz der türkischen Süperlig belegt, noch vor Fenerbahce. Das gefällt mir natürlich nicht. Sie ist ein wichtiger Knotenpunkt für Industrie und Handel und liegt direkt am schwarzen Meer. Leider führt die Hauptverkehrsstraße an der Küste entlang, baden und am Strand liegen gibts also nicht. Dafür hatten wir einen tollen Nachmittag im Hamam, mit Sauna und Massage und ich beginne mich ernsthaft zu fragen, wie ich in Deutschland ohne leben soll und wie und ob ich Hamamfrau werden könnte.

Marieke nahm einen Flieger zurück nach Istanbul, weil ihre Prüfungen bald anstehen, sodass Laure und ich den letzten Abend ohne sie in Trabzon verbrachten. Wir schmuggelten uns auf ein Konzert der Universität und lernten vier Typen kennen, mit denen wir Bier tranken. Einer von ihnen wollte mit mir nach Deutschland kommen und war großer Bushidofan. Mitten im Gespräch warf er völlig zusammenhanglos deutsche Worte in die Runde, die er aus Liedzeilen zusammengesucht hatte. „Schweinefleisch“, war sein liebstes. Ich musste sehr viel lachen.

Es war nicht so einfach aus Trabzon wegzukommen, an großen Straßen hält niemand an. Ein Familienvater, der erste auf unserem Trip, der Englisch sprach und uns erklärte, sein Leben wäre vorbei gewesen, als er mit 25 Jahren geheiratet und Kinder bekommen hätte, brachte uns in einen Randbezirk. Danach nahmen uns zwei Turkcellvertreter mit, die aussahen wie die Blues Brothers. Der nächste war, der uns mitnahm war Ahmet in seinem LKW mit dem wir etwa 250 km bis nach Samsun fuhren. Zwischendurch kochte er auf einem Gaskocher Menemen (Ei und Tomatensauce) und lud uns ein. Sein Freund, ebenfalls LKW-Fahrer kam dazu und wir speisten am Rande der Schnellstraße an einem Tisch, über den die beiden eine Tischdecke geworfen hatten. Ich machte unterwegs ein kleines Nickerchen und Ahmets Freund warf uns von seinem Truck aus drei eisgekühlte Dosen Cola herüber. Ein anderer Mann der uns mitnahm machte einen Abstecher über staubige Landstraßen und Kuhdörfer, um seinen Papa zu drücken, bevor er uns wieder absetzte.

Das wohl komfortabelste Auto des Tages war die Limousine von Cem, der für ein Jahr in Deutschland gelebt und gearbeitet hatte. Er und sein Bruder, der seit 40 Jahren in Heidelberg lebt, dort eine Baufirma hat und gerade zum Urlaub in Gerze war, luden uns zum Essen ein und brachten uns dann ans Ziel unserer Reise – Sinop, den nördlichsten Zipfel der Türkei.

Nach diesem 481km langen Trip legten wir einen Strandtag ein. Wir schliefen in der Studentenwohnung von Ibrahim und Murat, die uns die Tristesse des Sinopschen Studentenleben zeigten. 

Der Philosoph Diogenes wurde dort geboren und Ibrahim begründete dessen philosophischen Werdegang damit, dass Sinop so langweilig sei, dass der einzige Ausweg nur die Flucht in die eigenen (philosophischen) Gedanken sein kann. Ibrahim wollte weg, nach Istanbul wenigstens, wo das Leben tobt und nicht nur alte Fischer und das Meer. Er wollte nicht jeden Abend am Meer sitzen, Bier trinken und Kette rauchen. Doch seine Punktzahl, die bestimmt an welcher Universität und was er studieren kann, erlaubte ihm dies nicht. Ganz davon abgesehen, dass eine gewisse finanzielle Grundausstattung und Sicherheit dafür vonnöten wären. 

Nachdenklich und mit einem Unwohlsein bezogen auf meine eigene relativ sichere wirtschaftliche Lage, für die ich nichts getan habe außer in Deutschland geboren worden zu sein, nahm ich den Bus zurück nach Istanbul. 3116 km und wieder die Erkenntnis, dass die meisten Menschen freundlich sind und die Welt auch ein schöner Ort sein kann. 



Neues aus Istanbul 4

02.05.2022


Anders ankommen 


Nach einem kurzen Deutschlandintermezzo bin ich froh darüber, wieder nach Istanbul fliegen zu dürfen. Beinah routiniert bewege ich mich zum richtigen Bus, bezahle und steige nach anderthalb Stunden Fahrt durch diese Riesenstadt an der Fährstation von Kadiköy aus. Der Muezzin ruft, eine laue Brise trägt den Geruch von gegrilltem Fisch herüber, gelöste junge Menschen schieben sich durch die Straßen und ich werde eine von ihnen, bahne mir zielstrebig einen Weg durch die Massen. Ich erneuerte unterwegs meinen Handyvertrag in einem der Turkcellshops, werde von den Mitarbeitern gefragt, woher ich komme. „Almanya“, sage ich. Große Augen, irgendwas zwischen Anerkennung und Neugierde lese ich aus ihren Gesichtsausdrücken. „Almanya, çok güzel.“ sagt der eine. Ich frage warum. Er sagt: „Salary.“ – Gehalt. Ich nicke. Er hat Recht. Wir sind vergleichsweise reich und leben im Wohlstand, unsere Währung ist stabil und das Sozialsystem funktioniert meistens. Ich bin so privilegiert, Auslandsaufenthalte wie diesen über Erasmus organisieren und mit Zuschüssen finanzieren zu können. Aber trotzdem und vielleicht genau weil ich diese Möglichkeiten habe, bin ich lieber nicht in Deutschland.


Ich verlasse meine Arkadaşlar und gehe rauf zur Bullenstatue, dann wieder bergab Richtung Zuhause, vorbei an mindestens zehn Geschäften, die alle Brautmode verkaufen, einmal rechts rein am 70cm- Dürümladen vorbei, auch hier begrüßt mit einem freundlichen „Hoş geldiniz!“, dann wieder links rein in unsere Straße. Im Hair Beauty Garden sitzen auch abends um neun noch junge Frauen mit massenhaft Alufolie auf den Köpfen und bekommen Strähnchen gemacht. Die Baustelle neben unserem Haus schweigt bereits. Als ich die Tür aufschließe, warten ein riesiger Blumenstrauß, Baklava und ein voller Kühlschrank auf mich. „Meine“ Französinnen sind für einige Tage in den Libanon gereist und ich zum ersten Mal länger allein in der Wohnung.


Das Alleinsein tut mir gut und ich komme nochmal ganz anders an. Ich gehe auf dem Markt und bin so verzückt vom frischen Obst und Gemüse, dass mir auf dem Nachhauseweg die Arme schwer werden vom Tragen der vollen Plastikbeutel. Es gibt schon Wassermelone und Erdbeeren, die Sommerkleider nehmen zu und ich oute mich als Deutsche, weil ich die Birkenstocks trage. Ich suche mir neue Freundinnen und Freunde, gehe tanzen, in die Uni und zur Demonstration am ersten Mai.


1. Mai in Istanbul


Diese durfte nicht am historisch bedeutsamen Taksimplatz stattfinden, um den sich vom 28. Mai bis 10.August 2013 die Geziproteste abspielten. In diesen vereinten sich Menschen mit verschiedensten politischen Einstellungen und ethnischen, kulturellen, sozialen und religiösen Hintergründen jeden Alters. Ursprünglich ausgelöst durch den Beschluss dieser, die wenigen Bäume des Geziparks zu fällen, expandierte die Demonstration thematisch enorm: die Demonstrierenden setzten sich für mehr Freiheit, Achtung der Menschenrechte, Demokratie und gegen die Regierung Erdogans ein. Auch in anderen türkischen Städten kam es zu Kundgebungen, die gewaltsam vom Staats- und Polizeiapparat bekämpft wurden. Der Taksimplatz wurde geräumt, ohne eine ärztliche Behandlung der Verletzten zuzulassen. Elf Menschen verloren im Zusammenhang mit den Protesten ihr Leben. Die Regierung genehmigt dort keine Demonstration mehr und auch in diesem Jahr wurden 160 Menschen verhaftet, die sich anlässlich des ersten Mais dort versammelt hatten. 

Ich bin ein Stück mit dem erlaubten Demonstrationszug der Gewerkschaften in Maltepe mitgelaufen. Es dauerte wirklich lange, bis wir uns überhaupt bewegten, aber es gab viel zu sehen. Von der Bäckereigewerkschaft: Ekmek ve Onur (Brot und Ehre), über feministische Organisationen bis hin zu marxistischen und sozialistischen Parteien – alles versammelte sich, jeweils farblich passend gekleidet und lief Fahnen schwenkend zur Hauptbühne, die auf einer großen Wiese aufgebaut war. Und natürlich gab es alle fünfzig Meter Çay, Su, Simit oder Köfte Ekmek zu kaufen.

 

Außerdem habe ich wieder mal ein neues Istanbul erlebt: Am 02. Mai endete der Ramazan in diesem Jahr und das Zuckerfest (Bayramı) schließt sich an. Das bedeutet: Urlaub und Ferien, die die meisten bei ihren Familien verbringen. Die Fahrten in den öffentlichen Verkehrsmitteln sind kostenlos und die meisten Läden geschlossen. Natürlich ist die Stadt nicht leer, aber im Vergleich zum normalen Alltag doch wie ausgestorben. Ich musste mal wieder nicht in die Uni gehen, nutzte aber die Zeit, um eine der beiden Hausarbeiten zu schreiben, die ich am Ende des Semesters abgeben muss.







Neues aus Istanbul 3


15.04.2022

 

Fenerbahçe

 

Ich habe mich nie besonders für Fußball interessiert. Außerdem finde es prinzipiell blöd, dass für diesen Sport Milliarden ausgegeben werden, die weitaus sinnvoller, nachhaltiger und sozialer investiert werden könnten. Es kommt mir absurd vor für eine einzige Weltmeisterschaft Stadien zu bauen, die danach kaum genutzt werden und verfallen, während Teile der dortigen Bevölkerung hungern (siehe WM in Brasilien 2014).  Ich verstehe auch nicht, (ACHTUNG plump) was so spannend daran sein soll, 22 Leuten dabei zuzuschauen, wie sie einem Ball hinterherrennen.

Doch sogar Fußball fetzt in Istanbul. Die Stadt hat drei große Vereine – Galatasaray, Beşiktaş und Fenerbahçe - wobei letzterer sein Stadion und eine große Fangemeinde in “meinem” Stadtteil besitzt. Dass ein Fenerbahçematch ansteht, ist  bereits am Morgen des Spieltages erkennbar – (Männer)gruppen in blau und gelb gekleidet ziehen singend durch die Straßen, in die Luft steigt der Qualm von Zigaretten und Rauchfackeln, die Stimmung ist freudig, aufgeheizt und ein bisschen angetrunken.

Das letzte Match, ein Lokalderby zwischen Fenerbahçe und dem "Erzfeind" Galatasary, habe ich auf den Fernseh-Bildschirmen einer Kneipe verfolgt. Immer mehr junge Menschen sammelten sich mitten auf der Straße und reckten die Hälse, um zumindest kurzzeitig einen Blick auf das Spiel zu erhaschen. Ich hatte lange nicht mehr so viel Körperkontakt zu Fremden: Die Gassen verstopft von Schaulustigen und Vollblutfans, Kellner die versuchten sich einen Weg durch die Masse zu bahnen und zwischendurch der Ruf des Muezzins. Besonders viel vom Match habe ich nicht gesehen - zu viele Menschen die sprangen, fluchten, Zigaretten anboten und mir den Schlachtruf gegen Galatasaray beibrachten.

 

Wir gewannen zwei zu null und nach beiden Toren befand ich mich in einem Kreis hüpfender, grölender, für einen kurzen Moment glücklicher junger Männer.  Danach floss das Adrenalin durch meinen Körper und aufgekratzt von Sieg und Freude, ließ ich mich noch ein wenig treiben, beobachtete die Abschlussparty bei der Bullenstatue und die vielen fröhlichen Gesichter.

Ich interessiere mich nicht für diesen Sport, sondern für die  Reaktionen, die er in den Menschen auslöst. Freude, Langweile, Gemeinschaftsgefühl, Euphorie, Wut, Unverständnis, Trauer etc. etc. All diese Emotionen können sich innerhalb von (spannenden) 90 Minuten auf den Gesichtern spiegeln. Das ist phänomenal. Außerdem verstehe ich den Reiz nur zu gut, sich für einen längeren Moment der Wirklichkeit entziehen zu wollen: für anderthalb Stunden alles andere vergessen, nicht reden, nicht lachen, nicht witzig sein zu müssen. Und wenn der Eskapismus durch die Beobachtung eines getretenen Balles auf grünem Wiesengrund gelingt (was offenkundig bei vielen Menschen der Fall ist), bitteschön. Ich sehe euch gerne dabei zu.

 

 

Im Moda Parc

 

Es beginnt die Zeit, in der die Temperaturen so schwer einzuschätzen sind, dass Menschen in Wintermänteln auf Menschen in kurzen Hosen und dünnen Kleidern treffen. Augen unter Wollmützen beäugen die Sommersehnsucht der anderen, klar erkennbar in der Wahl der Bekleidung. Mir gefällt diese Unentschlossenheit des Aprils, der sich auf alle abfärbt. Sonnenschein ist nicht garantiert und der nächste Platzregen kommt bestimmt. April, der Monat der die Willkür des Lebens am besten widerspiegelt.

Wie auch immer, der Sommer lässt sich schon riechen und der Moda Parc ist voller Liebespaare, die den Sonnenuntergang bestaunen, improvisierenden Musikern, Freundesgruppen mit Slacklines, Pide-essenden Studentinnen, tanzenden Männergruppen, spielenden Kindern, flanierenden Alten und dösenden Riesenhunden, die mitten im Weg liegen. An ihnen vorbei rollt der Cay-verkäufer mit einem alten Kinderwagen, in dem er seine Teekannen und Kekse transportiert. Hier und da bleibt er stehen, verteilt das gewünschte Getränk und bleibt für einen Schwatz, bevor er die Lira einsammelt und weiterzieht. Ich rieche den gebratenen Fisch, vermischt mit dem Duft der Holzkohle, der von den Grills am Anfang des Parks aufsteigt. Zwei Männer wenden unermüdlich die Makrelen auf dem Rost. “Balik ekmek!”, rufen sie, während sie für 20 Lira das Fischbrötchen mit  Zwiebeln und Salat bestücken. Einen Spritzer Zitronensaft dazu und ein Zwinkern: Afiyet olsun!

Es gibt so viel zu sehen, dass ich ganz vergesse, wie sehr mich Joggen normalerweise langweilt. Plötzlich sind wir am Ende der Promenade angekommen, der Himmel färbt sich rosa und orange und ich bin meinen Mitbewohnerinnen dankbar, dass sie mich zum Mitrennen überredet haben.

 

 


Neues aus Istanbul 2

02.04.2022


Da einer meiner Professoren, bei dem ich zwei von meinen insgesamt drei Veranstaltungen belege, für zwei Wochen nach Genf zu einer Konferenz beordert wurde, hatte ich frei. Ich nutzte die Zeit für eine Reise nach Kappadokien. Zusammen mit meinen Mitbewohnerinnen und deren Besucherinnen, nahm ich den Nachtbus nach Göreme.

Ich glaube komfortabler als hier, können Busfahrten nicht gestaltet werden. Natürlich ist es nicht besonders bequem und nur Halbschlaf ist möglich, trotzdem sind die Busse hier ein effizientes und schnelles Fortbewegungsmittel und fahren eigentlich überallhin. Auf jeder Fahrt ist ein Stewart dabei, der wie im Flugzeug mit einem Klappwägelchen den Gang zwischen den Sitzen entlangrollt und je nach Wunsch Cay, Nescafé, Pepsi oder Wasser verteilt. Dazu gibt es Kekse oder Cracker. Und nachdem das Getränk getrunken und die Snacks verputzt wurden, bekommt jeder Fahrgast einen ordentlichen Schluck Eau de Cologne in die Handflächen geschüttet – zur Desinfektion.

Immer, wenn ich aus Istanbul herauskomme wird mir bewusst wie laut diese Stadt ist – logisch bei 16 Millionen Einwohner*innen – und wie gut absolute Stille tut. Zeitweise hatten wir auf unseren Wanderungen das Gefühl ganz allein auf der Welt zu sein. Sechs kleine Menschen zwischen phänomenalen Tuffsteinformationen, unterirdischen Höhlenwohnungen und in Stein gehauenen Kirchen. Wir schliefen in einem Hostel in Göreme und erkundeten von dort aus Kappadokien: zu Fuß, auf Fahrrädern, aber bevorzugt per Anhalter. Wir machten einen kleinen Wettbewerb daraus, wer am schnellsten das vorher festgelegten Ziel erreichen würde und wer die spannendste Mitfahrgelegenheit hatte. Ich mochte den LKW-Fahrer, der die Musik von Duman hörte. Als wir ihm erzählten, dass wir auf dem Konzert waren, kurbelte er die Fenster herunter und verteilte Zigaretten, während wir die Refrains mitgrölten. 

In Kappadokien verbringen normalerweise viele Russ*innen ihren Urlaub, worauf die vielen Schilder in russischer Sprache hinweisen, die vor den Büros der Anbieter von Flügen im Heißluftballon und Horse Riding platziert sind. Ihre Abwesenheit deutlich erkennbar an den leeren Hotels und Restaurants. Die türkische Taourismusbranche und Wirtschaft werden unter diesem Krieg leiden. 

Seit ich hier bin, hat die Lira weiterhin an Wert verloren, die Preise für die öffentlichen Verkehrsmittel sind um 30 % gestiegen, die Lebenserhaltungskosten in Istanbul seit dem letzten Jahr um 73 %. Mit dem Wissen um diese Zahlen und deren Bedeutung für die türkische Bevölkerung fühlt es sich absurd an, dank stabiler Eurowährung jeden Tag Kaffee trinken zu gehen.





Neues aus Istanbul 1


21.03.2022

 

Auf Konzerte gehen

Ich habe mich in Vorbereitung auf meinen Auslandsaufenthalt durch die türkischen Musikvorschläge von Spotify gehört. Währenddessen bin ich auf die Band Duman gestoßen, die mir gefiel, also schaute ich nach deren Konzertterminen. Tatsächlich sind sie gerade auf Tour und ich erstand einige Tickets.

Überwältigend und ungewohnt war es, mal wieder in einer riesigen Menschenmenge zu stehen, die textsicher so laut mitsang, dass ich den Leadsänger oft nicht mehr hörte. Drei Konzertbesucher*innen gelang es, die Bühne zu stürmen und eines der Bandmitglieder zu berühren, bevor die Security eingriff. Da ich zwar einige Songs kannte, aber weder textsicher war, noch einen Inhalt verstand, der Emotionen in mir auslösen könnte, beobachtete ich das Publikum um mich herum. Die meisten waren jünger als ich und dieses ihr erstes Konzert (die meisten Hände hoben sich auf Nachfrage des Sängers), auf dem sie wohl auch ihre erste Zigarette rauchten (wie unschwer erkennbar war). Sonst viele Pärchen: als 2015 die Proteste im Gezipark in vollem Gange waren, hatte Duman einige Protestsongs geschrieben. Heute treten sie in einem Stadion auf, an dessen Wänden ein Plakat mit dem Foto von Erdoğan neben dem von Mustafa Kemal Atatürk hängt. Und sie spielen: Liebes- und Herzschmerzlieder. Wie wunderbar unverfänglich.


Zum reinhören:

https://open.spotify.com/artist/6RTC1abMgBC7Krg6qJQHJh?si=bsjlkWjNR367k6vvxtc_VA&utm_source=copy-link

 

Hamamda

Es ist kalt und grau in Istanbul und andauernd schneit es. Ein besonders schöner Ort, um dem für kurze Zeit zu entkommen ist der Hamam, eine „öffentliche Badeanstalt“. Unser Besuch dort lief etwa folgendermaßen ab:

Nach dem Betreten der Eingangshalle wurden wir von einer der dort arbeitenden Frauen mit Hamamtuch und Badeschlappen ausgestattet und in die Umkleideräume geschickt. Diese verließen wir in das Tuch gewickelt, schlossen unsere Wertgegenstände ein und folgten unserer „Anleiterin“. Sie öffnete die Tür zum Hauptraum. In dessen Mitte, ein riesiger Marmorblock, auf dem drei Frauen lagen und gerade von oben bis unten eingeschäumt und massiert wurden.  An den Wänden befanden sich in regelmäßigen Abständen kleine marmorne Waschbecken, in die heißes Wasser plätscherte. Wir begaben uns zuerst in einen der Nebenräume, nahmen jede neben einem der Waschbecken Platz und übergossen uns mithilfe von Plastikschalen mit dem heißen Nass, wie es die Frauen um uns herum auch taten. Nach einiger Zeit gab mir eine der Hamamfrauen zu verstehen, dass ich ihr folgen und auf den Marmorblock legen sollte. Bäuchlings auf dem warmen, rutschigen Stein liegend, zog sie mich noch ein Stück zu sich heran und fuhr mit einem rauen Waschlappen über jeden Zentimeter meines Körpers. Ziel dieses Procedere ist es, die abgestorbene Haut abzureiben. Tatsächlich ist das eine erstaunlich große Menge, die sich da ansammelt.  

Dann wurde ich einmal abgespült und zur nächsten Frau geschickt die mich komplett einseifte, Füße und den Rücken massiert und mir einen Klaps auf den Hintern gab, wenn ich mich umdrehen sollte. Einmal komplett durchgewalkt, wankte ich zurück in unseren „Aufwärmraum“ und genoss, an den warmen Marmor gelehnt, das Treiben um mich herum. Schließlich bekamen wir noch die Haare gewaschen und verließen das Hamam so sauber wie wir wahrscheinlich noch nie zuvor in unserem Leben waren.

 

Erasmuspartys

Allein in Istanbul gibt es mehr als 50 Universitäten. Viele von diesen nehmen am Erasmus+ Programm teil, demzufolge kommen jedes Semester sehr viele internationale Studierende in die Stadt. Um diese miteinander bekannt zu machen, werden exklusive Partys für Erasmusstudierende veranstaltet. Ich wollte dem ganzen eine Chance geben und begab mich zusammen mit meinen Mitbewohnerinnen (auch Erasmusstudentinnen) auf ein eigens für dieses Event angemietetes Boot, das den ganzen Abend auf dem Bosporus rumcruisen sollte.

20€ Eintrittsgebühr für einen Abend voller Fremdscham: Pöbelnde und sich abfällig über ich Türkinnen und Türken äußernde Leute, die das Geld ihrer Eltern versaufen und das nur können, weil sie einfach Glück hatten in einem Land geboren worden zu sein, das wirtschaftlich relativ stabil ist und den Euro als Währung hat.

 

Wie dekadent und exkludierend ist es bitte, ein ganzes Boot anzumieten und dann einen horrenden Eintrittspreis zu verlangen, der den Zugang zu dieser Party für die meisten türkischen Studierenden unmöglich macht. Und warum soll ich eigentlich nur Internationale Studies kennenlernen, wenn ich in Istanbul, an einer türkischen Uni studiere? Ich schämte mich schließlich auch für meine Anwesenheit dort und wollte so schnell wie möglich gehen. Blöderweise befanden wir und mitten auf dem Bosporus, die Party war bis 1 Uhr nachts geplant, es war um 10. Ich ging nach draußen und fragte einen der Veranstalter, ob sie kurz in Kadiköy anhalten könnten. Tatsächlich war eine Person so betrunken, dass bereits mein „Heimathafen“ angesteuert wurde, um der Betrunkenen zumindest das Schwanken des Bodens zu ersparen. Ich war ganz glücklich darüber, sprang von Bord und ging nach Hause. 

 

 

 


Die erste Woche

06.03.2022


 

Ankunft

Gerade so bekomme ich den Bus, der vom Flughafen nach Kadiköy fährt. Wir stecken im Istanbuler Feierabendverkehr fest und benötigen beinah zwei Stunden bis zur Endhaltestelle. Genügend Zeit, um aus dem Fenster zu schauen und erste Eindrücke von der Stadt zu sammeln. Irgendwann erreichen wir die Fähr- und Busstation in Kadiköy - und dort, grau blau glitzernd liegt er vor mir, der Bosporus. Ich höre den Muezzin rufen und beobacht das Treiben um mich herume, während ich auf meine zukünftige Mitbewohnerin warte: Aus kleine Kiosken verkaufen alte Männer Simit Sesamkringel), an- und ablegende Fähren, rufende Blumenverkäuferinnen, Jogger*innen und Flanierende. Der Busfahrer beginnt sich Sorgen um mich zu machen, weil ich wartend herumstehe und fragt mehrmals, ob ich Hilfe brauche (zumindest erschließe ich mir dies), bis meine Mitbewohnerin kommt und ich ihm zum Abschied zuwinke. 

 

Kadiköy

Ich wohne mit zwei französischen Erasmusstudentinnen zusammen in einer kleinen Wohnung in Kadiköy auf der asiatischen Seite Istanbuls, nicht weit von der Bulls statue entfernt. Das Viertel ist jung, international (viele Erasmustudies) und ziemlich hip: Coole Klamottenläden, gemütliche Cafés, Bars und Kneipen und verwinkelte Gässchen an deren Ende ganz unverhofft das Meer glitzert. Der Sonnenuntergang kann vom Moda Park aus betrachtet werden, genauso wie die Silhouette der europäischen Seite der Stadt. Ein sehr charmantes Viertel also, in dem es viel zu entdecken und auszuprobieren gilt. Vor allem kulinarisch, begonnen beim Kahvaltı (Frühstück), das sich aus vielen kleinen Schälchen mit diversen Inhalten zusammensetzt (alles probieren und v.a. mit genügend Zeit genießen ): Oliven, Joghurt, herzhafte und süße Aufstriche, Rührei, Schafskäse, Tomaten und Gurken, Gebäck, Brot und natürlich Çay (starker schwarzer Tee) , der so schnell nachgeschenkt wird, dass das tulpenförmige Gläschen niemals leer wird. Nach dem Frühstück könnte es nahtlos weitergehen mit dem Essen: 

Vor Fett und Zucker triefendes Blätterteiggebäck (Baklava), Helva, Tulumba oder all die anderen Süßigkeiten, die sich in den Patisserien (Pastanesi) türmen zum bitteren Kaffee. Oder lieber Börek? Dazu eine Runde Tavla (Backgammon). Zum Abendessen dann Dürüm, Çorba (Linsensuppe), Pilav (Reis), Balık (Fisch, frisch aus dem Bosporus) , ımam bayıldı (Übersetzt: Der Imam fiel in Ohnmacht, weil so lecker – es handelt sich um geschmorte und mit Gemüse gefüllte Aubergine ) usw. Dagegen sieht die deutsche Küche mit ihrem Schmorbraten echt armselig aus.

Aber eigentlich ist es schon ausreichend, die Gemüseauslagen vor den Supermärkten zu betrachten, um in mir eine Woge der Begeisterung auszulösen: saftig, bunt und riesig ist die Auswahl, das meiste an Obst und Gemüse kommt aus der Türkei selbst. Ich beobachte einen der Gemüsehändler, wie er die großen Bündel Koriander und Petersilie mit einem Wasserschlauch „gießt“ und der Duft nach frischem Gemüse wird noch intensiver. Im nächsten Laden dann getrocknetes Feigen, Aprikosen und PFlaumen, Gewürze und Tee in Hülle und Fülle, 2 Meter weiter: Fisch, dann Unmengen an grünen, schwarzen und roten Oliven, getrocknete Tomaten, riesige Gläser Turşu (in Salz und Essig eingelegtes Gemüse), Käse, Olivenöl, Säcke voller Hülsenfrüchte usw. Willkommen im Schlaraffenland. 

 

 

Die Universität 

Der Weg zur Istinye Üniversitesi, deren Hauptcampus im Stadtteil Topkapi, auf der europäischen Seite Istanbuls liegt ist weit für jemanden, der die Entfernungen in Halle gewohnt ist: erst zur Fähre laufen, einmal übersetzen nach Eminönü, dann weiter mit der Tramway, dauerte ca. anderthalb Stunden. Um auf den Campus zu kommen muss ich eine Sicherheitsschleuse passieren, frage mich dann bis zum International Office durch, bekomme meinen Studierendenausweis ausgehändigt und den Auftrag, zum Campus meiner Fakultät zu fahren. Dieser liegt in Vadi, in der Nähe des Belgrad Forest, sehr weit draußen. Glücklicherweise gibt es einen universitätseigenen Shuttle. Diesen habe ich bereits zu schätzen gelernt, verkürzt er doch meine Anfahrtszeit von beinah drei Stunden (mit öffentlichen Verkehrsmitteln) auf eine Stunde. Trotzdem ist ein universitätseigener Fuhrpark natürlich dekadent, passend zum Viertel in dem sich mein Campus befindet: nur teure Klamottengeschäft und edle Restaurants, ein Starbucks und schicke Bürogebäude. Auch hier passiere ich eine Sicherheitsschleuse und muss mich ausweisen. Ich frage mich zu meiner Koordinatorin durch, die mir dann mit der Auswahl der Kurse wählt. Überhaupt fühle ich mich von der Uni sehr gut an die Hand genommen. Auf jede meiner E-Mails bekomme ich innerhalb einer Stunde eine Antwort, die anderen Erasmusstudierenden lerne ich im Zuge einer Informationsveranstaltung kennen und auch beim Beantragen des Resident Permits werden wir unterstützt.

In meiner ersten Woche besuchte ich nur zwei Kurse: International Development und Contemporary Turkish Worlds, die anderen hatte ich aufgrund von Organisationsveranstaltungen verpasst. Da es sich allerdings um die Einführungswoche handelte, saßen auch in den beiden Kursen in denen ich vorbeischaute nur eine Handvoll Studies. Einer der Professoren hatte als junger Mensch in München studiert und erprobte gleich seine sehr guten Deutschkenntnisse im Gespräch mit mir. Wir nahmen dann den gleichen Shuttle nach Kabataş zur Fährstation. Mitten in Istanbul, in einem elitären Shuttlebus sitzend, unterhielt ich mich also in meiner Muttersprache mit meinem türkischen Professor über Putin und deutsche Außenpolitik in Bezug auf den russischen Angriff auf die Ukraine. Das hatte ich nicht erwartet… Inhaltlich freue ich mich sehr auf beide Veranstaltungen, hoffentlich partizipieren nächste Woche noch mehr Studierende. Hier umfasst eine Veranstaltung an der Universität drei Stunden und es werden Mid-terms, also Zwischenprüfungen geschrieben. Das halte ich für ein gutes Konzept, v.a. wenn dies ein Form von kleinen Hausarbeiten passiert und nicht erst am Ende alles bulimisch gelernt werden muss.  

 


Tschüss Halle! Merhaba Istanbul!


25.02.2022

 

Mein WG-Zimmer ist für die Zwischenmieterin geräumt, alle Prüfungen sind geschrieben und die Verabschiedungen erfolgreich überstanden. Nun geht es für mich nach Istanbul, während nicht weit entfernt ein Krieg begonnen hat. Es sind absurde Zeiten, in denen wir leben.

 

Ich sitze nun am Flughafen und warte darauf, dass das Boarding beginnt. Schnell versuche ich mir noch die Zahlen von eins bis zehn auf Türkisch einzuprägen:

 

bir, iki, üç, dört, beş, altı, yedi, sekiz, dokuz, on. Noch eine Stunde bis zum Abflug, die Aufregung steigt..... 

Der letzte Abend in Halle
Der letzte Abend in Halle